Brenda Jackson Edition Band 10 (2024)

Brenda Jackson

BRENDA JACKSON EDITION BAND 10

PROLOG

Jillian Novak sah ihre Schwester fassungslos an. „Was soll das heißen– du kommst nicht mit? Das ist doch verrückt, Paige! Du warst diejenige, die die Reise geplant hat!“

„Daran brauchst du mich nicht zu erinnern, Jill, aber bitte versteh doch mein Dilemma.“ Zerknirscht hielt Paige dem Blick ihrer Schwester stand. „Eine Rolle in einem Film von Steven Spielberg ist einfach ein Traum. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, als Anfängerin ein solches Angebot zu bekommen! Zuerst war ich vor Freude im siebten Himmel– und dann zu Tode betrübt, als ich sah, dass die Dreharbeiten genau in der Woche beginnen, in der ich mit dir auf Kreuzfahrt sein sollte.“

„Lass mich raten– die Freude hat die Oberhand behalten.“ Jillian spürte, wie sich ein pochender Kopfschmerz anbahnte. Sie hatte sich aus verschiedenen Gründen sehr auf diese Mittelmeer-Kreuzfahrt gefreut, und nun sah es so aus, als fiele das Ganze ins Wasser.

„Es tut mir leid, Jill. Ich weiß, wie sehr du dir diese Reise gewünscht hast.“

Paiges Entschuldigung verstärkte Jillians Qual nur noch. Sie verdarb ihrer Schwester die Freude an einer Entscheidung, die sie selbst nicht anders getroffen hätte.

„Ich bin hier diejenige, die sich entschuldigen sollte, Paige. Ich habe nur an mich gedacht. Es wäre verrückt, eine solche Chance nicht zu nutzen. Ich freue mich wirklich für dich. Herzlichen Glückwunsch!“

Jetzt strahlte Paige über das ganze Gesicht. „Danke. Dabei wäre es so schön gewesen, wenn wir wieder mal ein bisschen Zeit für uns gehabt hätten. Am schönsten wäre es natürlich gewesen, wenn wir alle vier hätten zusammen sein können– du, ich, Pam und Nadia.“

Nadia, die noch das College besuchte, war ihre jüngste Schwester. Mit ihren einundzwanzig Jahren war sie zwei Jahre jünger als Paige und vier Jahre jünger als Jillian. Die älteste Schwester, Pamela, war zehn Jahre älter als Jillian. Alle waren sich einig, dass sie die beste älteste Schwester war, die man haben konnte. Pam hatte bereits die ersten Erfolge im Filmgeschäft gefeiert, als ihr Vater starb– und sie hatte der Glitzerwelt Hollywoods sofort den Rücken gekehrt und war nach Hause gekommen, um sich um ihre drei jüngeren Schwestern zu kümmern. Zu Hause– das war Gamble in Wyoming. Jetzt lebte Pam in Denver. Sie war inzwischen verheiratet, hatte zwei Kinder und leitete zwei Schauspielschulen, eine in Gamble, die zweite in Denver. Paige war in ihre Fußstapfen getreten und wollte ebenfalls Schauspielerin werden. Sie hatte bereits kleinere Rollen gehabt, studierte aber noch in Los Angeles.

Pam hatte so viel um die Ohren, dass sie eine Teilnahme an der Reise von vornherein ausgeschlossen hatte. Nadia wäre gern mitgekommen, aber verschiedene Prüfungstermine sprachen dagegen. Jillian hatte sich wenigstens eine ihrer Schwestern als Reisebegleitung gewünscht. Nachdem sie ihr Staatsexamen endlich hinter sich gebracht hatte, brauchte sie diese zweiwöchige Reise, um etwas Abstand zu gewinnen, bevor sie die Zeit als Assistenzärztin antrat. Und es gab noch einen zweiten Grund, wieso ihr diese Kreuzfahrt so wichtig war.

Aidan Westmoreland.

Es war kaum zu glauben, dass schon mehr als ein Jahr vergangen war, seit sie die Beziehung zu ihm beendet hatte. Noch heute tat es ihr weh, daran zu denken. Sie sehnte sich nach ein wenig Ablenkung von ihren Erinnerungen.

„Bist du okay, Jill?“

Jillian sah auf und zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, natürlich– wieso fragst du?“

„Ich hatte den Eindruck, dass du völlig abwesend warst, während ich dir alles Mögliche erzählt habe. Ist wirklich alles in Ordnung?“

Jillian winkte ab. Unter gar keinen Umständen wollte sie, dass Paige sich Sorgen machte und weiter in sie drang. „Ja. Alles okay.“

Paige schien nicht überzeugt. „Hmmm, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich den Film doch vergessen und stattdessen lieber mit auf die Kreuzfahrt kommen.“

Jillian nippte an ihrem Wein. „Sei nicht albern! Du nimmst diese Rolle an. Außerdem– ich storniere die Kreuzfahrt natürlich.“

„Wieso das denn?“

Jillian verdrehte die Augen. „Meine Güte, Paige! Was soll ich denn zwei Wochen allein auf einer Kreuzfahrt?“

„Dich entspannen. Das Meer genießen. Die Ruhe. Außerdem werden fantastische Ausflüge in die interessantesten Städte des Mittelmeerraums angeboten. Davon einmal abgesehen könntest du Glück haben und einen netten Junggesellen kennenlernen.“

Jillian schüttelte den Kopf. „Nette Junggesellen gehen nicht allein auf Kreuzfahrt. Außerdem ist ein Mann im Moment wirklich das Letzte, was ich gebrauchen könnte.“

Paige lachte. „Jill, in deinem Leben hat es keinen Mann mehr gegeben, seit du in der Oberstufe mit Cobb Grindstone ausgegangen bist. Ich glaube, gerade ein Mann ist das, was dir fehlt.“

Empört funkelte Jillian ihre Schwester an. „Wohl kaum– bei meinem vollen Terminkalender. Außerdem sehe ich in deinem Leben auch keinen Mann.“

„Zumindest habe ich im Laufe der letzten Jahre immer wieder mal ein Date gehabt. Du nicht. Falls doch, hast du es mir zumindest nicht erzählt.“

Jillian zwang sich zu einer nichtssagenden Miene. Sie hatte Paige tatsächlich nichts von ihrer Affäre mit Aidan erzählt, und das war auch gut so, wenn sie bedachte, wie diese Sache zu Ende gegangen war.

„Jill?“

Sie sah auf. „Ja?“

„Du hast doch keine Geheimnisse vor mir, oder?“

Das wäre der ideale Moment gewesen, ihre Affäre zu beichten, aber Jill war noch nicht bereit dafür. Auch nach einem Jahr war das Ganze für sie noch zu schmerzlich. Und unter gar keinen Umständen sollte Paige in dieser offenen Wunde herumstochern.

„Du weißt doch, dass ich mich voll und ganz auf das Studium konzentriert habe– deswegen gibt es keinen Mann in meinem Leben.“ Paige musste ja nicht wissen, dass es Aidan vor einigen Jahren problemlos gelungen war, sie von ihrem Studium abzulenken. Es war ein Fehler gewesen, für den sie teuer bezahlt hatte.

„Gerade deshalb finde ich, du solltest die Kreuzfahrt auch ohne mich machen. Du hast hart gearbeitet und solltest dich jetzt endlich mal entspannen. Sobald deine praktische Ausbildung beginnt, hast du noch viel weniger Zeit für dich– oder für sonst jemanden.“

„Mag sein, aber …“

„Kein Aber, Jillian.“

Jillian kannte diesen Ton. Wenn Paige sie bei ihrem vollen Namen nannte, war es ihr wirklich ernst. „Ich würde mich auf dieser Kreuzfahrt zu Tode langweilen. Zwei ganze Wochen!“

„Genau diese Zeit brauchst du zur Erholung. Und denk doch nur an all die tollen Städte, die du sehen wirst: Barcelona, Rom, Florenz, Athen.“ Paige musterte ihre Schwester kritisch. „Ich spüre, dass irgendwas mit dir nicht stimmt. Das habe ich schon vor Monaten gemerkt, als ich dich besucht habe.“ Sie lachte leise. „Vielleicht gibt es ja irgendeinen Arzt an der medizinischen Fakultät, auf den du ein Auge geworfen hast, und du bist nur noch nicht bereit, darüber zu reden. Vielleicht hat es dich richtig erwischt, und du weißt nicht, wie du mit diesem Sturm der Gefühle umgehen sollst. Falls dem so ist, hast du mein vollstes Verständnis. Wir haben alle mal Probleme, die wir lieber allein angehen. Deswegen bin ich ja überzeugt, dass die zwei Wochen an Bord dir guttun werden.“

In dem Moment brachte die Kellnerin das Essen. Jillian war erleichtert über die Unterbrechung. Paige ahnte ja nicht, wie nah sie der Wahrheit gekommen war. Das Problem war tatsächlich ein Arzt, aber keiner, der zusammen mit ihr an der Uni war.

Sie wusste, Paige würde keine Ruhe geben, bis sie sich bereit erklärte, die Kreuzfahrt auch ohne sie zu machen. Paige spürte, dass sie etwas beschäftigte. Es würde nicht mehr lange dauern, und Pam und Nadia wären ebenfalls im Bilde– falls sie es nicht bereits wussten. Außerdem: Sie hatte sich terminlich bereits auf die Kreuzfahrt eingerichtet. Fuhr sie nicht, würde die Familie erwarten, dass sie die Zeit zu Hause verbrachte. Das war ausgeschlossen. Was, wenn Aidan zufällig gleichzeitig nach Hause kam? Er war der Letzte, den sie jetzt sehen wollte.

„Jill?“

Jillian seufzte schwer. „Okay. Ich fahre. Vielleicht wird es ja ganz nett.“

Paige strahlte. „Bestimmt wird es das. Du kannst jede Menge interessanter Dinge sehen, und falls dir danach ist, einfach nichts zu tun, ist das auch okay.“

Jillian nickte. Nichtstun klang nicht schlecht. Sie musste ja zugeben, dass sie Aidan vermisst hatte. Seine heißen SMS. Die E-Mails, die ihr Blut in Wallung brachten. Die nächtlichen Telefonate, die Schauer prickelnden Verlangens in ihr auslösten.

Aber das war gewesen, bevor sie die Wahrheit erfahren hatte. Jetzt wollte sie nur noch eines: ihn endlich vergessen. Paige hatte recht. Sie musste abschalten. Sie wollte diese Kreuzfahrt machen. Allein.

Dr.Aidan Westmoreland betrat sein Apartment und warf frustriert einen Blick auf die Uhr. Er hätte erwartet, längst etwas gehört zu haben. Was, wenn …

Das Klingeln seines Handys ließ ihn innehalten. „Paige?“

„Ja, ich bin’s.“

„Und? Fährt sie?“ Sein knapper Ton verriet die innere Anspannung.

Am anderen Ende entstand eine kleine Pause. Dann folgte die erlösende Nachricht: „Ja, sie fährt.“

Erleichtert atmete er auf.

„Jill hat keine Ahnung, dass ich von eurer Affäre weiß“, fuhr Paige fort.

Aidan hatte auch nicht gewusst, dass Paige etwas ahnte, bis sie ihn im vergangenen Monat besucht hatte. Bereits einige Jahre zuvor hatte sie eins und eins zusammengezählt, als er zur Hochzeit seines Cousins Riley nach Hause gekommen war und sie zufällig gehört hatte, wie er Jillian zärtlich Jilly nannte. Im letzten Jahr dann hatte sie gespürt, dass etwas Jillian bedrückte. Etwas, über das sie nicht sprechen wollte.

Paige hatte mit Ivy gesprochen, Jillians bester Freundin, die sich ebenfalls Sorgen machte. Ivy hatte ihr alles erzählt, was sie über Jillians Verhältnis zu Aidan wusste. Das hatte Paige veranlasst, zu ihm nach Charlotte zu fliegen und ihn zur Rede zu stellen. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er keine Ahnung gehabt, was Jillian veranlasst hatte, ihre Beziehung zu beenden.

Paige erzählte ihm von der Kreuzfahrt, die sie gemeinsam mit Jillian plante. Als sie vorschlug, selbst von der Reise zurückzutreten, damit er an ihrer Stelle fahren und Jillian allein für sich haben konnte, hatte er nur zu bereitwillig zugestimmt.

Ich habe meinen Teil getan, und der Rest liegt jetzt bei dir, Aidan. Ich hoffe, du kannst Jillian von der Wahrheit überzeugen.

Kurze Zeit später beendete er das Gespräch und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen. Zwei Wochen allein mit Jillian– das war seine Chance. Nach diesen zwei Wochen würde sie nicht mehr daran zweifeln, dass er der richtige Mann für sie war.

Er zog sich aus, um zu duschen. Dabei musste er daran denken, wie seine geheime Affäre mit Jillian vor fast vier Jahren begonnen hatte …

1. KAPITEL

Vier Jahre zuvor

„Wie fühlt es sich an, einundzwanzig zu sein?“

Jillian stockte der Atem, als Aidan Westmoreland ihr gegenüber Platz nahm. Erst jetzt bemerkte sie, dass alle anderen ins Haus gegangen waren. Sie und Aidan waren allein auf der Terrasse, die einen wunderbaren Blick auf den See gewährte.

Diese Geburtstagsparty war eine große Überraschung gewesen– aber noch größer war die über Aidans Erscheinen, denn er kam nur selten von der Uni nach Hause. Es erschien ihr wenig wahrscheinlich, dass er allein wegen ihrer Party gekommen war. Da sie selbst die meiste Zeit am College war, kreuzten sich ihre Wege nur selten. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie in den vier Jahren, die sie ihn nun kannte, je ein wirkliches Gespräch mit ihm geführt hätte.

„Das Gefühl ist nicht anders als gestern“, bemerkte sie trocken. „Das Alter ist ja nur eine Zahl. Keine große Sache.“

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ein wunderbares Lächeln, das genau zu seinem allgemeinen Erscheinungsbild passte. Wenn auf irgendjemanden der Begriff des optischen Leckerbissens passte, dann auf ihn. Sie war ihm vom ersten Augenblick an verfallen. Richtig verfallen.

Aber welcher Frau würde es beim Anblick eines solchen Mannes anders gehen? Wenn es nicht seine Lippen waren, dann diese dunklen Augen, die einen so durchdringend ansehen konnten. Jillians Herz machte jedes Mal einen Satz, wenn ihre Blicke sich trafen.

„Nur eine Zahl?“ Er lachte leise und streckte die langen Beine vor sich aus. „Frauen mögen das so sehen, aber für Männer ist das anders.“

Er roch gut. Seit wann fiel ihr so etwas auf?

„Wieso, Aidan?“ Jillian nippte an ihrer Limonade. Ihr war plötzlich unerklärlich heiß geworden. Sie sah, wie er eine Braue hochzog und amüsiert lächelte.

„Bist du sicher, dass ich Aidan bin und nicht Adrian?“

Ja, da war sie sich hundertprozentig sicher. Nur Aidan berührte sie auf eine Weise, über die sie jetzt nicht weiter nachdenken wollte. Aber sie hatte gehört, dass er und sein eineiiger Zwilling nichts ahnende Mitmenschen, die sie nicht auseinanderhalten konnten, oft hinters Licht führten.

„Ich bin mir sicher“, bestätigte sie.

Er beugte sich zu ihr herüber und sah ihr tief in die Augen. „Und woher willst du das wissen?“

Bildete sie es sich nur ein, oder hatte sich seine Stimme zu einem rauen Flüstern gesenkt? Sein Bruder und er hatten den Ruf, wahre Frauenhelden zu sein. Dass er gern flirtete, hatte sie selbst auf diversen Hochzeiten im Hause der Westmorelands beobachten können. Und sie konnte es den Frauen nicht verdenken, dass sie diesen Männern verfielen.

„Ich weiß es einfach.“ Ihr Ton verriet, dass sie nicht die Absicht hatte, sich weiter zu dieser Frage auszulassen.

Ihr Schwager Dillon hatte sie vor der Hochzeit mit ihrer Schwester Pam mit seinem Bruder Aidan bekannt gemacht. Damals war sie gerade siebzehn gewesen und noch zur Highschool gegangen. Sie war Aidan vom ersten Augenblick an verfallen. Das Problem war: An diesem Zustand hatte sich seither nichts geändert. Eine Tatsache, die sie niemals zugegeben hätte.

„Wieso?“

Sie sah auf. „Wieso– was?“

„Wieso bist du dir so sicher? Du hast es noch nicht erklärt.“

Sie unterdrückte ein Seufzen. Wieso konnte er es nicht dabei belassen? Sie hatte nicht die Absicht, weiter über dieses Thema zu sprechen. Da sie ahnte, dass er keine Ruhe geben würde, erklärte sie vage: „Ihr beide klingt unterschiedlich.“

Sein Lächeln zauberte Grübchen auf seine Wangen. Reagierten ihre Hormone ohnehin bereits chaotisch, so liefen sie jetzt mehr oder weniger Amok. „Merkwürdig. Die meisten sagen, dass unsere Stimmen völlig gleich klingen.“

„Das finde ich nicht.“

Nur Aidans Stimme konnte ihre Nerven zum Vibrieren bringen, nicht Adrians. Um das Gespräch in eine unverfänglichere Richtung zu lenken, fragte sie: „Und? Wie läuft’s am College?“

Er begann, von seinem Medizinstudium zu erzählen. Seit sie sieben war und ihre Mutter an einem Hirntumor gestorben war, träumte sie davon, Medizin zu studieren und Neurochirurgin zu werden.

Er berichtete von einem dualen Ausbildungsprogramm zum Facharzt, das Kliniken in Portland und Charlotte anboten. Dort wollte er sich nach dem Examen bewerben. Er wollte Kardiologe werden und freute sich auf diese Arbeit. Sie spürte es an der Begeisterung, die in seinem Ton mitschwang. Diese Gefühle konnte sie teilen, weil es ihr selbst ebenso erging, auch wenn sie noch ein Jahr bis zu ihrem ersten Abschluss an der Universität von Wyoming vor sich hatte. Erst dann konnte sie ihr Medizinstudium aufnehmen.

Während er redete, gönnte sie sich das Vergnügen, ihn verstohlen zu betrachten. Der Mann war einfach in jeder Hinsicht umwerfend. Seine Stimme war samtweich mit einem rauen Unterton, der unglaublich sexy war. Dann diese markante Nase. Sinnliche volle Lippen. Ein kantiges Kinn. Sie liebte es, den Blick über seine Züge gleiten zu lassen.

„Weißt du schon, wo du nach dem Bachelor dein Medizinstudium machen möchtest, Jillian?“

Ruckartig kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Er hatte sie etwas gefragt und wartete jetzt auf ihre Antwort. Hatte er bemerkt, wie sie ihn betrachtete?

„Ich habe mir schon immer gewünscht, in New Orleans zu leben. Ein Ausbildungsplatz dort steht also ganz oben auf meiner Liste.“ Sie wich seinem Blick aus.

„Und die zweite Wahl?“

Sie zuckte die Schultern. „Da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht Florida.“

„Wieso?“

Sie runzelte die Stirn. Wieso fragte er sie so aus? „Ich bin noch nie dort gewesen– vielleicht deswegen.“

„Ich hoffe, das ist nicht der einzige Grund“, erwiderte er lachend.

„Natürlich nicht“, sagte sie hitzig. „Aber ich weiß, dass es sowohl in Louisiana als auch in Florida eine gute medizinische Ausbildung gibt.“

Er nickte. „Das stimmt. Wie ist dein Notendurchschnitt?“

„Gut. Ich gehöre zu den Besten meines Jahrgangs.“

Es war nicht leicht gewesen, so weit zu kommen. Jillian hatte viele Opfer gebracht, besonders was ihr soziales Leben anging. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ausgegangen war. Aber das war okay. Pam hatte die meisten Kosten für die Ausbildung übernommen, und Jillian wollte, dass ihre Schwester stolz auf sie sein konnte. Es war ein langer Weg: zuerst das vierjährige Universitätsstudium, das mit dem Bachelor-Titel abgeschlossen wurde. Das hatte sie bald hinter sich. Erst nach dem anschließenden, ebenfalls vierjährigen Medizinstudium konnte sie als Assistenzärztin in einem Krankenhaus arbeiten und eine Facharztausbildung machen.

„Was ist mit dem Zulassungsexamen für das Medizinstudium? Ich meine das MCAT. Hast du dafür schon was getan?“

„Das ist noch zu früh.“

„Es ist nie zu früh. Ich rate dir, schon jetzt in deiner Freizeit damit anzufangen.“

Jetzt war es an ihr, zu lächeln. „Freizeit? Was ist das denn?“

„Ganz gleich, ob du glaubst, Zeit zu haben, oder nicht– du solltest so früh wie möglich mit den Vorbereitungen beginnen und deine Zeit klug einteilen, damit du nicht schon vor dem Studium zusammenbrichst.“

Einerseits ärgerte sie sein Rat, andererseits musste sie zugeben, dass er bereits hinter sich hatte, was ihr noch bevorstand. Und soweit sie gehört hatte, war er sehr gut. Er würde die berühmte Harvard-Universität als einer der besten Absolventen verlassen und konnte sich dann einen Platz für seine Facharztausbildung aussuchen. Er würde die Chance haben, mit den besten Kardiologen in den gesamten Vereinigten Staaten arbeiten zu können.

„Danke für den Rat, Aidan.“

„Wenn du dich auf den Zulassungstest vorbereitest, lass es mich wissen. Ich werde dir helfen.“

„Wirklich?“

„Natürlich. Sogar wenn ich zu dir kommen muss, um es zu tun.“

Fragend sah sie ihn an. Er würde zu ihr kommen? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Harvard war in Boston, und von dort war es ein weiter Weg bis zu ihrer jetzigen Universität in Laramie, Wyoming.

„Gib mir doch für einen Moment dein Handy.“

„Wieso?“

„Damit ich meine Nummern einspeichern kann.“

Verblüfft zog Jillian ihr Handy aus der Hosentasche und reichte es ihm. Sie versuchte, das erregende Prickeln zu ignorieren, das sie überlief, als ihre Hände sich dabei flüchtig berührten. Fasziniert beobachtete sie, wie seine Finger rasch die Zahlen eingaben. Die Finger eines Chirurgen. Lange, schlanke, kräftige Finger. Wie mochte es sein, wenn sie ihre Haut berührten? Allein der Gedanke ließ sie erschauern.

Sekunden später klingelte sein Handy und riss sie aus ihren Gedanken. Sie begriff, dass er seine eigene Nummer angerufen hatte, um ihre Nummer bei sich abzuspeichern. „Das war’s.“ Er gab ihr das Handy zurück. „Nun hast du meine und ich deine Nummer.“

Zog sie irgendwelche voreiligen Schlüsse, oder hatte seine Stimme wirklich einen bedeutungsvollen Unterton? Schweigend steckte sie das Handy ein und verdrängte alle hoffnungsvollen Gedanken.

Mit einem Blick auf die Uhr erhob er sich. „Adrian und ich wollen uns in der Stadt mit Canyon und Stern auf einen Drink treffen. Ich muss los. Also: alles Gute zum Geburtstag.“

„Danke, Aidan.“

An der Terrassentür drehte er sich noch einmal zu ihr herum. Der durchdringende Blick dieser dunklen Augen ließ sie erneut erschauern. Was war das? Leidenschaft? Lust? Reine Chemie? Sicher ein wenig von allem– und mehr. Seit ihre Schwester Pam in die große Familie der Westmorelands eingeheiratet hatte, hatte sie, Jillian, immer wieder feststellen können, dass alle Männer der Familie ausgesprochen gut aussahen. Aber Aidan hatte etwas an sich, das sie ganz besonders ansprach. Es weckte ihre ganze Weiblichkeit zum Leben.

Sie räusperte sich. „Ist was?“, fragte sie, als das Schweigen zwischen ihnen sich dehnte.

Ihre Frage ließ ihn aufschrecken. Er runzelte leicht die Stirn, bevor er kurz lächelte. „Ich bin mir nicht sicher.“

Fragend sah Jillian ihm nach. Was hatte er damit gemeint?

Warum muss es ausgerechnet Jillian Novak sein?

Gleich bei der ersten Begegnung hatte Aidan sich zur ihr hingezogen gefühlt. Er war zweiundzwanzig gewesen und sie gerade siebzehn. Bildhübsche siebzehn. Er hatte sofort gewusst, dass er auf Distanz gehen musste. Nun war sie einundzwanzig und wirkte immer noch so unschuldig wie vor vier Jahren. Nach allem, was er gehört hatte, gab es keinen Mann in ihrem Leben. Sie konzentrierte sich ganz auf ihr Studium.

Aidan liebte seine Familie. Wieso ließ er es also zu, dass er sich zur Schwester seiner Schwägerin Pam hingezogen fühlte? Nichts lag ihm ferner, als Probleme für seinen Cousin Dillon heraufbeschwören zu wollen.

Pam Novak war eine Perle und genau die Frau, die Dillon verdient hatte. Alle waren schockiert gewesen, als Dillon erklärte, er wolle wieder heiraten. Ausgerechnet Dillon! Er hätte es besser wissen sollen! Hatte seine erste Frau ihn nicht verlassen, als er sich weigerte, die jüngsten vier Familienmitglieder– nämlich Aidan, Adrian, Bane und Bailey– in Pflegefamilien zu geben? Wie konnte Dillon sicher sein, dass Pam anders war? Aber es dauerte nicht lange, bis die ganze Familie begriff: Pam war in der Tat anders.

Sie kannte den Wert der Familie. Sie hatte es bewiesen, als sie auf ihre Karriere beim Film verzichtet hatte, um sich um ihre drei Schwestern zu kümmern, nachdem ihr Vater gestorben war.

Die Westmorelands hatten einen ähnlichen Schicksalsschlag einstecken müssen. Aidans Eltern waren zusammen mit seinem Onkel und seiner Tante bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Sein Cousin Dillon als der Älteste übernahm die Verantwortung, unterstützt von Ramsey, Aidans ältestem Bruder. Dillon und Ramsey hatten alles getan, um die Familie zusammenzuhalten. Alle fünfzehn Cousins und Cousinen.

Aidans Eltern hatten acht Kinder gehabt: fünf Jungen– Ramsey, Zane, Derringer und die Zwillinge Aidan und Adrian– und drei Mädchen: Megan, Gemma und Bailey. Onkel Adam und Tante Clarissa hatten sieben Söhne gehabt: Dillon, Micah, Jason, Riley, Canyon, Stern und Bane.

Es war nicht leicht gewesen, besonders da er, Adrian, Bane und Bailey noch unter sechzehn gewesen waren. Die vier waren es auch gewesen, die ständig in irgendwelchen Problemen gesteckt hatten, bis die Behörden schließlich eine Unterbringung in Pflegefamilien anordneten. Dillon legte Berufung ein gegen diese Entscheidung und gewann. Zum Glück für die vier jüngsten Westmorelands hatte Dillon begriffen, dass alle Probleme letztlich auf ihre Trauer um den Verlust der Eltern zurückzuführen waren. Jetzt studierte Aidan Medizin. Adrian stand kurz vor dem Abschluss seines Ingenieur-Studiums. Brisbane war bei der Marine, und Bailey besuchte Kurse an der örtlichen Universität, während sie gleichzeitig in Teilzeit arbeitete.

Gegen seinen Willen schweiften Aidans Gedanken zurück zu Jillian. Die Geburtstagsparty am Vortag war eine Überraschung gewesen. Ihre schockierte Miene war einfach göttlich gewesen. Hinreißend. Hätte er noch irgendwelche Zweifel daran gehabt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte– seine Reaktion auf diese Begegnung hätte sie beseitigt.

Sie war auf die Terrasse gekommen in dem Glauben, es gebe eine Abschiedsparty für seine Schwester Gemma, die Callum geheiratet hatte und mit ihm nach Australien gehen wollte. Stattdessen erwartete sie eine Geburtstagsparty für sie selbst. Sie vergoss vor Rührung ein paar Tränen. Tränen, die er gern fortgeküsst hätte. Dann umarmte sie Pam und Dillon und dankte ihnen, dass sie an ihren einundzwanzigsten Geburtstag gedacht hatten. Nach allem, was er gehört hatte, war dies ihre erste Party gewesen.

Während alle sich darum drängten, ihr zu gratulieren, hielt er sich im Hintergrund und betrachtete sie verstohlen. Das leichte Sommerkleid war bezaubernd. Sie war eindeutig nicht mehr die Siebzehnjährige, die er vor vier Jahren kennengelernt hatte. Ihr Gesicht war voller geworden, ihre Züge reifer und ihr Körper …

Woher waren diese Rundungen gekommen? Die hätte er niemals übersehen können. Sie war kleiner als er mit seinen einen Meter achtzig. Er schätzte sie auf gut einen Meter sechzig. Und ob es Pam gefiel oder nicht: Ihre Schwester war rundum eine Augenweide. Er kannte keine andere Frau, die derart sexy war.

Als er begriff, dass er der Einzige war, der ihr noch nicht gratuliert hatte, wollte er gerade zu ihr gehen, aber in dem Moment klingelte sein Handy. Rasch verließ er die Terrasse, um den Anruf eines Freundes entgegenzunehmen, der ihm ein Blind Date für das kommende Wochenende schmackhaft machen wollte.

Kurze Zeit später kehrte er auf die Terrasse zurück. Bis auf Jillian waren alle ins Haus gegangen, um sich einen Film anzusehen oder Karten zu spielen. Sie war allein. Nie würde sie erfahren, wie schwer es ihm gefallen war, ihr gegenüberzusitzen, ohne sie berühren zu können. Sie sah einfach hinreißend aus. Und duftete gut.

Jillian Novak ging ihm eindeutig unter die Haut.

Aber Dillon und Pam würden ihn umbringen, wenn er seine Gefühle nicht in den Griff bekam.

Jeder wusste, dass Pam ihre Schwestern behütete wie eine Glucke ihre Küken. Genauso wie jeder wusste, dass Aidan ein Frauenheld war, der mitnahm, was sich bot, ohne die Beziehungen je ernst zu nehmen. Und er hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Unter diesen Umständen war es also das Beste, wenn er in den kommenden drei Tagen auf Abstand zu Jillian blieb– so wie er es immer getan hatte.

Und warum hast du ihr dann deine Nummer gegeben?

Okay, das war vielleicht nicht sehr klug gewesen. Nur gut, dass sie ihn mit größter Wahrscheinlichkeit nie anrufen würde. Und umgekehrt würde er es ebenso halten. Das war eine gute Absicht. Wenn er sich jetzt noch dazu bringen könnte, nicht mehr ständig an sie zu denken, wäre eigentlich alles in Ordnung. Er zwang den Blick auf die medizinische Fachzeitschrift, die er vor sich hatte, und versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren.

„Würdest du mir einen großen Gefallen tun?“

Aidan sah auf, als seine Schwester Bailey ihn ansprach. Sie war immer das Baby der Westmorelands gewesen, bis Dillon und Pam einen kleinen Sohn und Ramsey und seine Frau Chloe eine Tochter bekommen hatten.

„Das hängt davon ab, was es ist.“

„Ich habe Jill versprochen, mit ihr auszureiten und ihr die Ländereien von Westmoreland zu zeigen, die sie noch nicht kennt. Jetzt habe ich gerade einen Anruf bekommen– ich muss arbeiten. Könntest du Jill an meiner Stelle begleiten?“

„Reite doch ein andermal mit ihr aus“, schlug er rasch vor, weil ihm klar war, dass ein gemeinsamer Ausritt mit Jillian keine gute Idee war.

„Das wollte ich ihr vorschlagen, aber ich kann sie nicht erreichen. Wir wollten uns in der Nähe vom Gemma Lake treffen, und du weißt, wie schlecht der Handy-Empfang dort draußen ist. Sie wartet schon auf mich.“

Er runzelte die Stirn. „Kannst du nicht jemand anderes bitten?“

„Ich habe es versucht, aber alle sind beschäftigt.“

„Ich etwa nicht?“ Er warf einen vielsagenden Blick auf die Zeitschrift.

Bailey verdrehte die Augen. „Nicht so wie die anderen. Lesen kannst du auch später.“

Er ahnte, dass es keinen Sinn haben würde, ihr zu erklären, wie wichtig diese Artikel für ihn waren.

„Und? Machst du es?“

Er seufzte. „Bist du sicher, dass es sonst niemand tun kann?“

„Ja, und sie würde die Ländereien wirklich gern sehen. Dies ist ja jetzt auch ihr Zuhause und …“

„Ihr Zuhause? Sie ist doch die meiste Zeit an der Universität.“

„Genau wie du– und dennoch ist dies dein Zuhause.“

Er hielt es für angezeigt, die Diskussion nicht weiter zu verfolgen. Seine kleine Schwester konnte manchmal in ihm lesen wie in einem offenen Buch, und im Moment lag ihm nichts daran, dass sie das tat. Sie würde schnell merken, dass alle Seiten nur von Jillian handelten …

„Okay, ich mach’s.“

„Ein bisschen mehr Begeisterung könnte nicht schaden. Du bist ziemlich distanziert, was Pams Schwestern angeht.“

„Das stimmt nicht!“

„Doch, das stimmt. Du solltest sie endlich einmal richtig kennenlernen. Schließlich gehören sie jetzt zur Familie. Außerdem wird Jillian genau wie du Medizin studieren. Ihr habt also schon mal ein gemeinsames Interesse.“

War nur zu hoffen, dass es das einzige gemeinsame Interesse blieb. Dafür musste er sorgen. „Wie du meinst.“ Er ging zur Tür und nahm dabei seinen Stetson vom Haken.

„Aidan?“

„Was denn noch?“ Unwirsch sah er sich um.

„Versuch doch, ein wenig nett zu sein. Du bist manchmal ein richtiger Brummbär.“

Wortlos zog Aidan die Tür hinter sich zu. Schließlich wusste er, dass er bei einem Streit mit Bailey nur verlieren konnte.

2. KAPITEL

Jillian hörte ein Pferd kommen. Schützend schirmte sie die Augen mit der Hand ab und sah sich um. Plötzlich ging ihr Puls schneller. Aidan! Was machte er hier? Und wo war Bailey?

Beim Frühstück hatten Bailey und sie beschlossen, am Nachmittag gemeinsam auszureiten. Da der Besitz der Familie weit vor der Stadtgrenze Denvers so groß war, nannten die Leute ihn Westmoreland Country. Einen Teil davon kannte Jillian bereits, und Bailey hatte sich erboten, ihr den Rest zu zeigen. Oder zumindest einen Teil davon.

Jillian atmete tief durch, als Aidan und sein Pferd näher kamen. Sie versuchte, zu ignorieren, was sich unwillkürlich aufdrängte: wie gut er im Sattel saß. Mit seinem Stetson, den Jeans und Reitstiefeln sah er aus wie der geborene Cowboy.

Als er das Pferd neben ihr zum Halten brachte, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufsehen zu können. „Aidan.“

Er nickte ihr zu. „Jillian.“

Seine gereizte Miene und der kühle Ton ließen vermuten, dass er wegen irgendetwas aufgebracht war. Befand sie sich auf einem Teil des Westmoreland-Besitzes, auf dem sie nicht sein sollte? Eine Erklärung schien angezeigt.

„Ich warte auf Bailey. Wir wollen ausreiten.“

„Richtig. Das hat sie mir erzählt.“

„Und?“

„Sie hat versucht, dich zu erreichen, weil sie unvorhergesehen arbeiten muss. Aber du hast hier keinen Empfang mit deinem Handy. Deswegen hat sie mich gebeten, für sie einzuspringen.“

„Du … du sollst für sie einspringen?“

„Ja. Sie sagte, du möchtest dir unseren Besitz ansehen.“

„Das stimmt, aber …“

„Aber was?“ Sein Blick schien sie förmlich zu durchbohren.

Jillian vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jeans. Wie sollte sie ihm sagen, dass sie nicht die Absicht hatte, irgendwo mit ihm hinzureiten? Sie konnte keine Minute mit ihm zusammen sein, ohne die Fassung zu verlieren. So wie jetzt.

Sie hatte die Hände in die Taschen gesteckt, weil sie schon jetzt feucht waren. Und dann das Prickeln, das ihren ganzen Körper überlief, sobald Aidan in der Nähe war. Aidan Westmoreland war so unglaublich sexy, dass es sie schier um den Verstand brachte.

„Jillian?“

Sie hob den Blick. Der Klang seiner Stimme war wie eine Liebkosung. „Ja?“

„Hast du ein Problem damit, dass ich für Bailey einspringe?“

Ja, sie hatte ein Problem damit, aber das konnte sie ihm nicht sagen.

„Nein, nein, das ist okay“, log sie rasch. „Aber ich könnte mir vorstellen, dass du Besseres zu tun hast, als mit mir auszureiten.“

Er zuckte die Schultern. „Kein Problem! Außerdem sind wir ja jetzt eine Familie. Wir sollten uns besser kennenlernen.“

Das Prickeln verstärkte sich. Sicher hatte er die Worte nicht so gemeint, wie sie geklungen hatten. „Wieso?“

Er lehnte sich im Sattel zurück, und ihr Blick fiel unwillkürlich auf die langen, schlanken Finger, die die Zügel hielten. Sie meinte förmlich zu spüren, wie diese Finger über ihre Haut glitten. Durch ihr Haar fuhren. Über ihre Arme. Ihren nackten Körper. Sie erschauerte.

„Dillon hat Pam vor vier Jahren geheiratet, und es gibt immer noch vieles, was ich nicht von dir und deinen Schwestern weiß.“ Seine nüchternen Worte geboten ihren Fantasien jäh Einhalt. „Wir sind jetzt eine Familie, und bei den Westmorelands wird die Familie großgeschrieben. Ich hatte bisher kaum Gelegenheit, dich, Paige und Nadia näher kennenzulernen.“

So formuliert klang das Ganze schon anders. Es ging nicht nur um sie. Sie hätte dankbar dafür sein sollen, aber aus irgendeinem Grund war sie es nicht.

„Wegen der Uni war ich auch nur selten hier“, erklärte sie. „Aber wir können uns ein andermal besser kennenlernen. Es muss nicht heute sein.“

„Heute ist so gut wie jeder Tag. Morgen fahre ich zurück nach Boston. Keine Ahnung, wann unsere Wege sich erneut kreuzen. Wahrscheinlich erst wieder zu Weihnachten. Bringen wir es hinter uns!“

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er sich gezwungen fühlte.

„Falls du glaubst, mir einen Gefallen zu tun, irrst du dich!“, fauchte sie.

„Wie bitte?“ Ihre Reaktion schien ihn zu überraschen.

„Wir müssen nichts hinter uns bringen. Bailey hat dich offensichtlich zu etwas überredet, das du gar nicht willst. Ich kann mir den Rest von Westmoreland Country auch allein ansehen.“ Sie band ihr Pferd los und saß auf. „Ich brauche deine Gesellschaft nicht, Aidan.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. Seine grimmige Miene verriet, dass ihre Worte ihm nicht gefallen hatten. Der Eindruck bestätigte sich, als er eisig erklärte: „Ich sage es nur ungern, Jillian Novak, aber du wirst meine Gesellschaft ertragen müssen– ob es dir nun passt oder nicht.“

Ihre Blicke trafen sich. Trugen einen wortlosen Kampf aus. Aidan war sich nicht sicher, worum es ging– Willensstärke, Leidenschaft, Verlangen? Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, schienen alle drei um die Oberhand zu ringen.

Er meinte förmlich, Rauch über Jillian aufsteigen zu sehen. Ganz eindeutig hatte sie etwas dagegen, dass gegen ihren Willen über sie bestimmt wurde.

„Hör mal“, lenkte er ein. „Wir verschwenden unsere Zeit. Du möchtest das Land sehen, und ich habe nichts Besseres vor, als es dir zu zeigen. Ich entschuldige mich, falls ich etwas grob rübergekommen bin, aber unter gar keinen Umständen darfst du glauben, dass ich etwas dagegen habe, dich näher kennenzulernen.“

Er musste ja nicht so weit gehen, zuzugeben, dass Bailey ihn gebeten hatte, nett zu Jillian und ihren Schwestern zu sein. Er war immer höflich gewesen, und seiner Meinung nach war das ausreichend. Es war keine gute Idee, Jillian zu nah zu kommen. Aber hatte er ihr nicht selbst angeboten, ihr bei der Vorbereitung auf die Zulassungsprüfung für das Medizinstudium zu helfen? Das war ein Fehler gewesen. Ein großer Fehler.

Sie musterte ihn schweigend. Das gab ihm einen Kick. Stärker noch als vor einem Augenblick, als er beobachtet hatte, wie sie sich in den Sattel schwang. Er musste tief durchatmen, um die wilde Leidenschaft zu bezähmen, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Die Art, wie sie ihn ansah. Diese vollen Lippen. Die sanften Rundungen ihres Körpers. Es gab nur einen Weg, dieses Verlangen zu stillen …

Doch das war ein Weg, den er nicht gehen durfte. Nicht, wenn ihm sein Leben lieb war.

„Bist du dir sicher?“

Nein, er war sich in überhaupt nichts sicher, was sie betraf. Aber vielleicht gab es einen anderen Weg. Vielleicht musste er sie nur besser kennenzulernen, um festzustellen, dass er sie doch nicht mochte.

„Ja, ich bin mir sicher. Also los!“ Er brachte sein Pferd neben ihrem zum Stehen. „Es gibt viel zu sehen. Ich hoffe, du bist eine einigermaßen gute Reiterin.“

„Es dürfte gerade so reichen.“ Sie gab ihrem Pferd die Sporen.

Voller Bewunderung sah er zu, wie sie in makelloser Haltung über einen kleinen Bach setzte. Er lachte leise. Sie war nicht nur einigermaßen gut, sie war perfekt!

Jillian sah sich um und beobachtete, wie Aidan gleichfalls über den Bach setzte. Seine Eleganz überraschte sie nicht. Sie hatte von Dillon gehört, dass alle seine Brüder und Cousins perfekte Reiter waren.

Aidan hatte sie schnell eingeholt. „Du bist gut!“, meinte er, als die beiden Pferde nebeneinanderher trotteten.

„Danke.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Du bist auch nicht schlecht.“

Er warf den Kopf zurück und lachte laut auf.

„So kann man’s auch ausdrücken. Es hat mal eine Zeit gegeben, wo ich ernsthaft drüber nachgedacht habe, Rodeos zu reiten.“

Das überraschte sie nicht. „Hat Dillon es dir ausgeredet?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das hätte er nie getan. Er hat jedem von uns freie Hand gelassen bei der Entscheidung, was er aus seinem Leben machen wollte. Jedem von uns außer Bane.“

Jillian hatte schon alles über Aidans Cousin Brisbane Westmoreland gehört, den alle nur Bane nannten. Dillon hatte ihm empfohlen, zum Militär zu gehen. Entweder das oder möglicherweise ins Gefängnis– für einen Schaden, den er angerichtet hatte. Bane hatte sich für die Marines entschieden. In den vier Jahren, in denen Pam jetzt mit Dillon verheiratet war, hatte Jillian Bane nur zweimal gesehen.

„Was hat dich vom Rodeo abgebracht?“, erkundigte sie sich.

„Mein Bruder Derringer. Er hat ein paar Sommer lang Rodeos geritten. Dann wurde er dabei sehr schwer verletzt. Das hat uns allen einen Schock versetzt. Die Vorstellung, vielleicht noch ein Familienmitglied zu verlieren, hat mich wachgerüttelt. Mir war klar, dass ich das den anderen nicht antun durfte.“

Jillian nickte. Sie wusste, dass er seine Eltern sowie seinen Onkel und seine Tante bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte. Dillon als der Älteste hatte sich dann um die Familie gekümmert. „Ich habe gehört, Derringer und einige deiner Cousins und Brüder betreiben eine Pferdezucht.“

„Ja, sogar sehr erfolgreich. Sie hatten kein Interesse am Familienunternehmen, deswegen haben sie sich dann irgendwann mit dem Gestüt selbstständig gemacht. Etliche ihrer Tiere haben schon wichtige Rennen gewonnen.“

„Ramsey hat sich auch aus dem Familienunternehmen zurückgezogen, oder?“

„Richtig. Er hat einen Universitätsabschluss in Landwirtschaft und Ökonomie. Schon von Kindesbeinen an wollte er Schafe züchten, aber nach dem Flugzeugabsturz wollte er Dillon bei der Leitung von Blue Ridge helfen.“

Jillian wusste, dass Blue Ridge Land Management zur Liste der fünfhundert umsatzstärksten Unternehmen der USA gehörte. Aidans Vater und sein Onkel hatten es vor Jahren gegründet. „Aber irgendwann konnte er seinen Traum dann doch noch verwirklichen?“

Aidan nickte. „Ja, Dillon hat ihn überzeugt, dass er Blue Ridge auch allein managen kann. Ramseys Schafzucht ist sehr erfolgreich.“

Jillian mochte Ramsey. Eigentlich mochte sie alle Westmorelands, die sie bisher näher kennengelernt hatte. Als Pam Dillon geheiratet hatte, hatte die Familie sie und ihre Schwestern mit offenen Armen aufgenommen. Sie hatte festgestellt, dass einige der Familienmitglieder mehr aus sich herausgingen als andere, aber so viel war klar: Die Familie hielt zusammen.

„Woher kannst du so gut reiten?“, wollte Aidan wissen.

„Durch meinen Vater. Ich glaube, er hat sich immer einen Sohn gewünscht und endete dann mit vier Töchtern. Er fand, es gibt Dinge, die jeder können sollte– und Reiten gehörte dazu.“ Sie musste an die herrlichen Zeiten denken, die sie mit ihrem Vater gehabt hatte.

„Er schien bei mir ein gewisses Potenzial zu sehen, weil er mich sogar zu einer Reitschule geschickt hat. Bis er krank wurde, habe ich schon an nationalen Wettbewerben teilgenommen. Dann brauchten wir das Geld, um seine Medikamente und die Arztrechnungen zu bezahlen.“

„Bedauerst du, das Reiten aufgegeben zu haben?“

„Nein. Es hat mir Spaß gemacht, aber es war wichtiger für mich– wie für uns alle–, dass unser Vater die bestmögliche Behandlung bekam.“ Und das war die Wahrheit. Keiner von ihnen hatte bedauert, etwas aufgeben zu müssen, als es darum ging, das Beste für ihren Vater zu tun.

„Da sind wir.“

Jillian ließ den Blick umherschweifen. So weit das Auge reichte, gehörte alles zu Westmoreland Country. Da Dillon der Älteste war, hatte er das Haupthaus geerbt zusammen mit einhundert Hektar Land. Alle anderen erhielten mit dem fünfundzwanzigsten Geburtstag je vierzig Hektar überschrieben. Einige Bereiche wurden bereits landwirtschaftlich genutzt, andere waren noch unberührte Wildnis. Fasziniert betrachtete Jillian einen idyllischen Wasserlauf, der sich in einen großen See ergoss. Gemma Lake. Soweit sie gehört hatte, war der See nach Aidans Urgroßmutter benannt.

„Es ist wunderschön hier. Wo sind wir genau?“

Lächelnd sah er sie an. „Das hier ist mein Land. Aidan’s Haven.

Aidan’s Haven– Aidans Paradies. Aidans Zufluchtsort. Was für ein passender Name! Sie konnte sich gut vorstellen, wie er hier eines Tages sein Haus bauen würde.

„Wie hast du diesen schönen Namen gefunden?“

„Das war Baileys Idee. Sie hat alle Einheiten benannt. Zu jedem ist ihr etwas Passendes eingefallen– Stern’s Stronghold, Zane’s Hideout– um nur ein paar zu nennen.“

Jillian hatte bereits alle schon fertigen Häuser besucht. Sie waren so unterschiedlich wie ihre Besitzer. Einige waren einstöckig im Stil alter Ranchen, andere hatten mehrere Etagen. Allen gemein war, dass sie sich harmonisch in die Landschaft einfügten. „Wann wirst du dein Haus bauen?“

„In absehbarer Zeit noch nicht. Nach dem Medizinstudium werde ich wahrscheinlich einige Zeit woanders leben und arbeiten. Um Kardiologe zu werden, muss ich sechs Jahre als Assistenzarzt arbeiten.“

„Aber irgendwann wird hier dein Zuhause sein.“

„Ja, das stimmt.“

Sie hatte immer gedacht, sie werde eines Tages in Gamble leben. Nach dem College werde sie zurückkehren und einige Jahre an einem Krankenhaus arbeiten, um anschließend eine eigene Praxis aufzumachen. Schließlich hatte sie ihr ganzes Leben dort gelebt. Alle ihre Freunde waren in Gamble. Aber nachdem Pam Dillon geheiratet hatte, war alles anders geworden für sie, Paige und Nadia. Sie standen ihrer ältesten Schwester sehr nah und beschlossen, Wyoming zu verlassen, um bei ihr zu sein. Nadia war inzwischen in ihrem letzten Jahr auf der Highschool hier in Colorado, und Paige lebte in Los Angeles.

„Was ist mit dir? Willst du irgendwann nach Gamble zurückkehren?“

„Nadia, Paige und ich haben gerade vor ein paar Wochen darüber gesprochen. Wir wollen Pam bitten, unser Elternhaus zu verkaufen. Sie hätte es schon lange tun können, aber sie dachte, wir möchten es behalten.“

„Und das wollt ihr nicht?“

„Für uns ist Denver jetzt unser Zuhause. Zumindest für Nadia und mich. Paige hat in Los Angeles Wurzeln geschlagen. Sie hofft, dort Karriere beim Film machen zu können. Pam hat schon so viel für uns getan, dass wir nicht mehr länger auf ihre Unterstützung angewiesen sein möchten. Wir könnten den Erlös des Hauses für unsere Ausbildung nutzen.“

Aidan nickte. „Lass uns einen Spaziergang machen. Ich möchte dir hier noch einiges zeigen, bevor wir weiterreiten zu Adrians Cove.“

Er sprang ab und band sein Pferd an einen Baum. Dann half er Jillian aus dem Sattel. Seine Berührung schien sie förmlich zu elektrisieren. Seinem Blick nach zu schließen, ging es ihm ähnlich.

Das war völlig neu für sie. Noch nie hatte sie so etwas gefühlt. Der Sex mit Cobb Grindstone nach einem Schulkonzert hatte vor Jahren ihre Neugier befriedigt, aber doch vieles zu wünschen übrig gelassen.

Kaum berührten ihre Füße den Boden, stöhnte Aidan laut auf. „Jillian …“

Wie immer, wenn sie seine weiche und doch raue Stimme hörte, fühlte sie einen Schauer prickelnder Erregung über ihren Körper laufen. Ehe sie noch etwas sagen konnte, hatte er sie fest an sich gezogen und drückte seine Lippen auf ihre.

3. KAPITEL

Aidan durchlebte ein Chaos der Gefühle. Er spürte die Frau in seinen Armen. Spürte ihre Lippen an seinen. Spürte eine Hitze durch seinen Körper pulsieren, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte.

Er wusste, dass er aufhören musste. Sofort! Dies war nicht irgendeine Frau. Dies war Jillian Novak, Pams Schwester und Dillons Schwägerin. Eine Frau, die jetzt zur Familie der Westmorelands gehörte.

Das alles war richtig– und dennoch konnte er sie nicht freigeben. Er war wie gefangen vom süßen Duft ihrer Haut und dem unglaublichen Geschmack ihrer Lippen. Von der Art, wie ihre Zungen einen erotischen Tanz vollführten. Sie fühlte sich so herrlich an in seinen Armen, so als gehöre sie dorthin. Er wollte mehr. Wollte sie überall spüren und küssen. Sie schmecken.

Nur weil er keine Luft mehr bekam, gab er schließlich ihre Lippen frei, sehnte sich aber danach, sogleich dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten.

Der schockierte Blick, den sie ihm zuwarf, zeigte ihm, dass sie Zeit brauchte, zu begreifen, was da zwischen ihnen passierte. Sie trat einen Schritt zurück und atmete einmal tief durch.

„Das hätten wir nicht tun dürfen.“

Aidan konnte nicht glauben, dass sie das gesagt hatte. Sie, die immer noch vor kaum verhohlenem Verlangen bebte. Noch vor wenigen Sekunden hätte er ihr vielleicht recht gegeben, aber jetzt nicht mehr. Nicht, wenn es ihn in den Fingern kribbelte, sie wieder an sich zu ziehen, um sie erneut um den Verstand zu küssen. Verdammt, warum waren ihre vollen Lippen auch so einladend?

„Warum haben wir es denn getan?“, erwiderte er. Er mochte den ersten Schritt gemacht haben, aber es war fraglos nicht gegen ihren Willen geschehen. Ihre Reaktion war zu eindeutig gewesen. Sie hatte den Kuss ebenso genossen wie er.

„Ich weiß nicht, wieso, aber wir dürfen es nicht wiederholen.“

„Und wieso nicht?“

Sie runzelte die Stirn. „Du kennst den Grund. Dein Cousin ist mit meiner Schwester verheiratet.“

„Und?“

Sie stemmte die Arme in die Seiten und lenkte seinen Blick damit auf eine atemberaubende Taille. „Ich weiß, dass du ein Frauenheld bist, Aidan.“

Ihre Worte trafen einen wunden Punkt. „Bist du dir sicher?“

„Ja. Und ich will gar nicht mehr darüber hören. Mich interessiert nur mein Medizinstudium. Sonst nichts.“

„Und mich interessiert nur mein Examen“, konterte er knapp. „Und was die Ehe von Dillon und Pam betrifft– das ändert gar nichts. Du bist immer noch eine attraktive Frau, und ich bin ein Mann, dem das auffällt. Aber da ich nun weiß, wie du dazu stehst, werde ich dafür sorgen, dass es sich nicht wiederholt.“

„Danke.“

„Keine Ursache. Ich bin froh, dass wir das klären konnten. Dann können wir ja mit unserer Besichtigung fortfahren.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.“

Schweigend sah er zu, wie sie sich eine Strähne aus dem Gesicht strich. Sie war wirklich eine unglaublich attraktive Frau. „Wieso nicht? Hast du Angst, du hast dich in meiner Nähe nicht unter Kontrolle?“ Die Vorstellung ließ ihn lächeln.

Ihr zorniger Blick hätte ihn warnen sollen, aber er hatte sich noch nie bremsen lassen. „Glaub mir, nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.“

„Dann gibt es doch keinen Grund, dir das andere nicht auch noch zu zeigen, oder, Jillian? Außerdem würde Bailey mir das Leben zur Hölle machen, wenn ich es nicht täte. Wir haben noch eine weite Strecke vor uns, wir sollten uns also auf den Weg machen.“

Er ging zurück zu den Pferden und erwartete, dass Jillian ihm folgen würde, wenn sie sich ein wenig gefangen hatte.

Jillian sah Aidan nach. Sie brauchte einen Moment, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wieso hatte sie zugelassen, dass er sie küsste? Und wieso hatte sie den Kuss erwidert?

Der Mann gab einem Zungenkuss eine völlig neue Bedeutung. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Mund je wieder derselbe sein würde wie vor seinen Liebkosungen.

Noch nie hatte ein Mann sie derart geküsst. Keiner hätte es gewagt. Sie bezweifelte sogar, dass irgendein Mann vor Aidan gewusst hätte, wie. Cobb ganz bestimmt nicht und auch nicht der Typ aus dem ersten Jahr an der Universität. Les war sein Name gewesen. Sie hatte die Beziehung mit ihm sofort abgebrochen, als er sie schon bei ihrem ersten Date mit ins Hotel nehmen wollte. Die wenigen Küsse, die sie mit ihm getauscht hatte, waren nur ein matter Abglanz dessen gewesen, was sie jetzt mit Aidan erlebt hatte.

Aber ganz gleich, wie atemberaubend dieser Kuss auch gewesen sein mochte– er durfte sich nicht wiederholen. Unter keinen Umständen. Sie wollte sich nicht mit einem Mann einlassen, der für seine Frauengeschichten bekannt war. Sie verstand selbst nicht mehr, was über sie gekommen war.

Dafür verstand sie ihn umso besser. Mehr als einmal hatte sie Dillon sagen hören, dass die Zwillinge zwar hervorragende Studenten waren, aber wohl zu keiner ernsthaften Beziehung fähig wären. Dazu genossen sie es zu sehr, ständig ihre Frauen zu wechseln. Aidans Interesse an ihr war also nur auf eine Überdosis Testosteron zurückzuführen. Pam hatte Jillian mehrfach vor Männern gewarnt, die ihr nichts Gutes bringen würden. Ihre Schwester wäre mit Sicherheit sehr enttäuscht, wenn sie erführe, dass Jillian auf einen Mann wie Aidan hereingefallen war. Auf einen Mann, der sie von ihren beruflichen Zielen ablenken und einfach nur zu seinem Spielzeug machen würde.

Als sie glaubte, sich wieder unter Kontrolle zu haben, folgte sie Aidan. Er war noch nicht sehr weit entfernt. Unwillkürlich glitt ihr Blick über seine männliche Figur. Seine verblichenen Jeans betonten die muskulösen Schenkel und schmiegten sich eng an den festen Hintern. Schmale Hüften und breite Schultern rundeten das Bild ab. Sein Gang war so unglaublich sexy, dass ihr Puls sich mit jedem seiner Schritte beschleunigte.

Einen Moment später blieb er stehen und sah sich zu ihr um. Hatte er ihre Blicke gespürt? Wusste er, dass sie jedes Detail seiner Figur gemustert hatte? Blieb nur zu hoffen, dass dem nicht so war. Zumindest verstand sie jetzt, wieso die Frauen so auf ihn flogen.

„Kommst du?“

Ich komme– wenn du aufhörst, mich so anzusehen! Jillian spürte seinen bohrenden Blick, während sie sich langsam näherte. Direkt vor ihm blieb sie stehen und sah sich um. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich ihr ein herrlicher Blick auf den See bot.

„Das ist ja wunderschön!“, entfuhr es ihr.

„Ich weiß. Genau hier soll mein Haus stehen.“

„Hast du es schon entworfen?“

„Nein. Es wird ja noch etliche Jahre dauern, bis ich es baue, aber ich komme oft hierher und denke daran, wie es sein wird. Das Haus soll groß genug sein für mich und meine Familie.“

Sie fuhr herum. „Du hast die Absicht, zu heiraten?“

Er lachte leise. „Ja, eines Tages. Überrascht dich das?“

Sie beschloss, offen zu sein. „Ja, schon. Du hast einen gewissen Ruf …“

Lächelnd lehnte er sich gegen den Stamm einer sibirischen Ulme. „Das ist das zweite Mal heute, dass du diesen Ruf erwähnst. Was genau hast du denn über mich gehört?“

Sie setzte sich auf einen großen Baumstumpf. „Ich habe gehört, was für Teufel ihr vier gewesen seid– du, Adrian, Bailey und Bane.“

Er nickte ernst. „Das stimmt. Aber es ist lange her, und ich kann ehrlich sagen, dass wir unser Verhalten aufrichtig bedauert haben. Als wir älter wurden und begriffen, was wir der Familie angetan hatten, haben wir uns bei jedem Einzelnen entschuldigt.“

„Ich bin sicher, sie hatten Verständnis für euch. Ihr wart noch sehr jung, und es gab einen Grund für euer Verhalten.“ Pam hatte ihr die ganze Geschichte erzählt. Die vier Jüngsten hatten am meisten unter dem Tod ihrer Eltern gelitten. Alle hatten gewusst, dass ihr Verhalten ein unbewusster Protest gegen diesen Verlust gewesen war.

„Tut mir leid, dass ich das angesprochen habe.“

Er zuckte die Schultern. „Schon okay. Es sieht ganz so aus, als müssten wir heute noch gegen den schlechten Ruf von damals kämpfen. Aber ich habe das Gefühl, du hast nicht diesen Ruf gemeint …“

„Ich habe gehört, du magst Frauen.“

Er lachte. „Das tun wohl die meisten Männer.“

Sie war alles andere als amüsiert. „Ich meine, du magst sie, aber ihre Gefühle sind dir einerlei. Du brichst ihre Herzen, ohne an den Schmerz zu denken, den du damit verursachst. Wie soll ich dir da glauben, dass du allen Ernstes erwägst, eines Tages zu heiraten und eine Familie zu gründen?“

„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Anscheinend muss ich mal etwas klarstellen: Ich bin nicht darauf aus, anderer Leute Herzen zu brechen. Ich sage jeder Frau, mit der ich zusammen bin, ganz offen und ehrlich, dass mein Beruf für mich an erster Stelle steht. Wenn sie das nicht ernst nimmt und glaubt, sie könne mich ändern, dann ist es nicht meine Schuld, wenn sie anschließend enttäuscht wird.“

„Mit anderen Worten …“

„Mit anderen Worten, Jillian, es ist nicht meine Absicht, irgendeiner Frau das Herz zu brechen oder ihr etwas vorzumachen“, beschied er sie knapp.

Sie wusste, dass es klug gewesen wäre, das Thema hiermit zu beenden, aber aus unerfindlichen Gründen musste sie noch einmal nachhaken. „Du gibst also zu, viele Frauen zu haben?“

„Ja, das tue ich. Und warum auch nicht? Ich bin ledig und habe nicht die Absicht, mich in absehbarer Zeit zu binden. Und was viele angeht– ich glaube, da überschätzt du mich ein wenig. Durch das Studium hab ich kaum Freizeit.“

Das konnte sie nachvollziehen. Wie er es überhaupt schaffte, neben dem Studium noch Dates zu haben, überstieg ihre Vorstellungskraft. Sie hatte festgestellt, dass Beziehungen gepflegt sein wollten und daher viel Zeit kosteten. Zeit, die sie nicht hatte. Er schien es sich leicht zu machen, indem er die Beziehungen nicht ernst nahm. Zumindest war er ehrlich, was das anging. Er hatte seinen Spaß mit den Frauen, aber er liebte sie nicht.

Sie holte tief Luft. „Ich habe noch eine letzte Frage, Aidan.“

„Und die wäre?“

„Wenn das alles so stimmt, wie du gesagt hast– warum hast du mich dann geküsst?“

Das war eine gute Frage. Aidan hätte sie beantworten können, aber ihm stand nicht der Sinn danach. Dennoch: Jillian hatte eine Antwort verdient, besonders nach diesem atemberaubenden Kuss. Sie war einundzwanzig. Fünf Jahre jünger als er. Obwohl sie den Kuss erwidert hatte, konnte es keinen Zweifel daran geben, dass Welten zwischen ihren sexuellen Erfahrungen lagen. Bevor sie ihre Antwort bekam, musste er selbst ein paar Fragen stellen.

„Wieso hast du meinen Kuss erwidert?“

An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass die Gegenfrage sie überraschte. Und wie erwartet versuchte sie, ihm auszuweichen. „Darum geht es jetzt nicht.“

Er musste unwillkürlich lächeln. Sie ahnte nicht, dass es genau darum ging– aber dazu würde er später kommen. „Ich habe dich geküsst, Jillian, weil ich neugierig war. Ich finde, du hast wunderschöne Lippen, und ich wollte wissen, wie sie schmecken. Das wollte ich schon eine ganze Weile.“

Er sah, wie ihr die Kinnlade herunterklappte. Solch eine Antwort hatte sie eindeutig nicht erwartet. Doch so viel sollte sie über ihn wissen: Er war ein Freund offener Worte. Es gab kein langes Drumherum. Keinen Zuckerguss.

Er räusperte sich. „Jetzt weißt du, warum ich dich geküsst habe. Und was war nun dein Grund dafür, meinen Kuss zu erwidern?“

Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe. Er unterdrückte ein Stöhnen. Am liebsten hätte er sie noch einmal geküsst. Jetzt gleich. Auf der Stelle.

„Ich … ich war …“

„Du warst was?“, hakte er nach, als sie verstummte.

Sie hatte doch tatsächlich den Nerv, ihre Zungenspitze über die Lippen gleiten zu lassen! „Ich war auch neugierig“, erklärte sie dann.

Er lächelte. Immerhin! „Das verstehe ich. Ich nehme an, du hast gefragt, weil ich dir gestanden habe, dass ich im Moment nicht an einer ernsthaften Beziehung interessiert bin. Ich hoffe, für dich ist ein Kuss kein Zeichen für mehr?“

„Nein, natürlich nicht“, versicherte sie ihm hastig.

Ihrem Mienenspiel entnahm er, dass sie log. Sie war noch unerfahrener, als er angenommen hatte. Wieso sonst mussten sie dieses Gespräch führen? Wie weit mochte diese Unerfahrenheit gehen?

„Wie viele Männer hast du gehabt?“

„Wie bitte?“

„Ich möchte wissen, mit wie vielen Männern du zusammen warst. Und bevor du mir jetzt sagst, das ginge mich nichts an– ich frage nicht ohne Grund.“

„Ich kann mir keinen Grund für eine solche Frage vorstellen.“ Trotzig reckte sie das Kinn.

„Damit du dich schützen kannst.“ Sie sah so unglaublich süß aus. Süß und sexy.

„Vor Männern wie dir?“

„Nein. Männer wie ich würden dir nie weismachen, ein Kuss sei ein Zeichen für ernsthaftes Interesse. Aber es gibt Typen, die nicht so ehrlich sind.“

Sie runzelte die Stirn. „Und du glaubst, ich könnte damit nicht umgehen?“

„Nicht wirklich. Aus irgendeinem Grund glaubst du, Küsse vermeiden zu können, bis du eine ernsthafte Beziehung hast. Aber es gibt Küsse, die unausweichlich sind.“

Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte. „Nimm unseren Kuss von vorhin. Glaubst du allen Ernstes, du hättest ihn beenden können, nachdem ich angefangen hatte?“

„Natürlich hätte ich das!“

„Und wieso hast du es dann nicht getan?“

Genervt verdrehte sie die Augen. „Das habe ich doch schon gesagt. Ich war neugierig.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich!“

„Und jetzt ist deine Neugier befriedigt?“

„Genau. Ich wollte wissen, wie du küsst, und jetzt weiß ich es.“

Er beschloss, ihr ein für alle Mal zu beweisen, dass sie sich irrte. Langsam ging er auf sie zu.

„Einen Moment mal, Aidan Westmoreland. Glaub nur nicht, du könntest mich noch einmal küssen!“

Direkt vor ihr blieb er stehen. Sie wich keinen Schritt zurück. Er musste ihren Mut bewundern, auch wenn er in diesem Fall vergebens war.

„Ich glaube es nicht, Jillian, ich weiß es. Und ich weiß auch, dass du meinen Kuss erwidern wirst. Zum zweiten Mal.

4. KAPITEL

Jillian bezweifelte, je einen arroganteren Mann getroffen zu haben. Und was noch schlimmer war: Aidan stand direkt vor ihr, den Stetson nach hinten geschoben, die Beine fest auf dem Boden– der Inbegriff der Selbstsicherheit. Wie konnte er es wagen, zu behaupten, sie werde seinen Kuss erwidern? Glaubte er das allen Ernstes?

Wütend funkelte sie ihn an, doch er hielt ihrem Blick gelassen stand. Er hatte eine Art an sich, die sie auf die Palme brachte. Vor allem, wenn er wie jetzt den Blick langsam über ihren ganzen Körper gleiten ließ. War das Wut, die in ihr kochte? Oder doch eher Verlangen? Woher kam dieses Wechselbad der Gefühle? Turnte sein Blick sie an? Sie versuchte, sich dagegen zu wappnen, wurde aber immer tiefer hineingezogen in den Strudel des Verlangens.

„Hör auf!“

Er zog eine Braue in die Höhe. „Womit?“

„Damit, das zu tun, was du tust.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Du glaubst also, ich sei schuld, weil dein Atem plötzlich schneller geht? Ich bin schuld, dass deine Brustwarzen sich aufrichten und sich unter dem Stoff ...

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Name: Prof. Nancy Dach

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